… und dann sah ich sie

1986. Frankfurt. Ich lehnte unschlüssig am Eingang der großen Halle E. Ich wusste nicht, wo ich beginnen sollte, das Gelände auszuloten. Die erste Buchmesse meines Lebens, und viel zu spät war ich angekommen, am letzten Tag, ein paar Stunden vor dem Ende. Ich trug ein Konzept für ein Symposion über weibliche Ästhetik und Psychoanalyse in meiner Tasche, das ich in Wien soeben vorbereitete. Die Themen waren inspiriert von französischer Theoriebildung über Geschlechterdifferenz beim Entstehungsprozess von Literatur. Ein paar Stars der akademischen Szene in Paris würden Teil der Veranstaltung sein. Für die Beiträge der geplanten Doku hatte ich noch keinen Verlag, doch der sollte schnell her, noch bevor das Symposion losging. Ich stand unter Zugzwang. Französische Gegenwartsphilosophie! Würde die hier Anklang finden? Weibliches Schreiben! Wen könnte das interessieren? Ich machte die ersten zögerlichen Schritte in die Gänge hinein, blieb vor diesem oder jenem Stand stehen, blätterte in Büchern und Katalogen. Bald aber ließ ich die Arme sinken, entmutigt von der nicht enden wollenden Zahl von Kojen zu beiden Seiten des Ganges, und wie viele dieser Gänge es gab, wagte ich nicht, mir auszudenken. Ich schaute abwesend den Besucher_innen zu, die sich auf die Bücher stürzten, denn am letzten Tag wurde zu günstigen Preisen verkauft. Die Verleger_innen selbst waren längst weg, auch das hatte ich vorher nicht bedacht. So kurz vor Ende der Messe anzukommen – was für ein Schildbürgerstreich!
Erst jetzt fragte ich mich, was wohl die beste Strategie sei. Die Atmosphäre aufnehmen, zwei Stunden vor dem Schlussakkord, als alle begannen einzuräumen, mit von den letzten Tagen müden Gesichtern? Oder gleich zu diesen Leuten hingehen, die ich nicht kannte, und die an jedem vorbeischauten, der ihnen zu nahekam, um ihnen etwas über mich zu erzählen – in schon viele Male gehörten, immer gleichklingenden Sätzen das eigene Werk zu preisen?
Ich fühlte mich auf einmal wie jene Tourist_innen, die zum ersten Mal in Paris vor den überfüllten Geschäften anhielten, um das zur Schau Gebotene in sich aufzusaugen, denn käuflich erwerbbare Luxusgüter waren das einzige, was die Stadt von sich preisgab, wenn man von ihren Bewohner_innen niemanden kannte. Da blieb es bei den Auslagen und ihren Lichtern, die nach einigen Stunden so betäubten, dass man nichts anderes wollte, als sich zurückzuziehen und zu vergessen, dass man die Stadt erobern wollte. So ging es mir hier auch. Ich war kurz davor, mich in all den Eindrücken so zu verlieren, dass jedes Wollen obsolet wurde.
Plötzlich befand ich mich vor einem Stand, der mich in seinem losen Nebeneinander von Romanen unterschiedlichster AutorInnen faszinierte. Die Buchcover hatten verführerische Farben und es gab so viele davon. Glamouröse Frauen mit ausdrucksstarken Lippen und Augen zierten so manchen Fotoband. Klingende Namen französischer Philosoph_innen prangten auf dünnen Bänden einer Reihe namens ‚rive gauche‘. Eine schlanke, intellektuell wirkende Frau mit spitz zulaufenden Brillen, das Haar zu einem Zopf geflochten, den sie vom Nacken aus über den Kopf zur Stirn gezogen und dort befestigt hatte, stand in hochhackigen roten Lederstiefeletten vor mir. Die Verlegerin selbst, Claudia Gehrke. Eine der wenigen, die bis zum Ende der Messe geblieben waren. Der Gesichtsausdruck war zurückhaltend, aber nicht unnahbar, neugierig. Sie und ich waren allein. Wir schauten uns an, ich begann zu lächeln, dann legte ich los.
„Grüß Gott…“
Das war ein unpassender Gesprächsanfang in Frankfurt. „Hallo“, oder „Guten Tag“, oder „Tach, ich…“ Das ging, aber „Grüß Gott…“? Wo sind wir denn?
Meine eigene Ungeschicklichkeit ließ mich verstummen, aber da sie mich weiterhin anschaute, setzte ich zu einem neuen Anlauf an. Sie war sie sofort interessiert. Anfangs noch zögernd erzählte ich von meinem Symposion im Werden. Ihre Haltung ermutigte mich. Sie kannte fast alle Namen der eingeladenen Philosophinnen, das Who is Who des Feminismus zu jener Zeit. Diese Frauen wollte sie immer schon herausbringen. Worum es in all diesen Theorien wohl ginge?
Aus dem Handgelenk sollte ich über weibliche Triebökonomie sprechen, gerade ich. Ich begann, hörte aber meine eigene Stimme wie von Ferne, meine Worte machten mich verlegen, meine Wangen wurden heiß. Eine andere späte Messebesucherin schlenderte vorbei, schnappte ein paar Sätze auf, blieb stehen und rief, „von der Veranstaltung habe sie auch schon gehört, die könne nur ein Erfolg werden. Man bräuchte sich nur die Einladungsliste anschauen.“ Die Welt lächelte mich plötzlich an.
‚Schreiben Sie mir doch bitte Ihren Namen auf‘, sagte die Verlegerin zu mir.
Ich beugte mich zu dem Notizblock auf dem Pult hinunter. Dort hatte ich bereits den Titel des Symposions hingeschrieben, wollte noch meinen Namen hinzufügen. Meine Hand bebte so, dass ich den Bleistift nicht halten konnte und mehrmals absetzte.
„Wollten Sie noch etwas sagen?“, fragte Claudia Gehrke.
„Nein. Nur, ich schreibe übrigens auch. Erotische Texte. Im Wiener Frauenverlag.“
„Ach tatsächlich? Das interessiert mich sehr.“
Ich versuchte erneut zu schreiben. Die Buchstaben stoben in alle Richtungen auseinander. Endlich hatte ich meinen eigenen Schriftzug geschafft.

Einige Wochen später ein Anruf von Claudia Gehrke.
„Sie sagten doch, Sie schreiben erotische Texte. Hätten Sie Lust, mir etwas zu schicken?“
„Ja gern.“
Der Symposionsband kam wenige Monate nach der Veranstaltung als Konkursbuch 20, ‚Das Sexuelle, die Frauen und die Kunst‘ heraus und auch meine erste Sammlung erotischer Erzählungen, „Sex, Sehnsucht und Sirenen“ erschien bei Claudia. Gemeinsam kämpften wir gegen Alice Schwarzers PorNO-Kampagne und Zensurbestrebungen, gegen Versuche, explizit erotische Darstellungen zu skandalisieren. Mein Debut als Erotik Autorin fiel ja mit dem Zeitpunkt zusammen, als PorNO die mediale Bühne betrat und zu den feministischen „Sex Wars“ führte, zu Vandalisierungen von Galerien, die erotische Kunst zeigten, zu Lokal- und Leseverboten in Lesbenzirkeln, zur Stigmatisierung von BDSM, und der Weigerung mancher Frauenbuchhandlungen, unsere Bücher im Sortiment zu führen. Als Jungautorin war ich besonders sensibel gegen diese Angriffe, der Beginn meines Schreibens war immer mit einem politisch-theoretischen Rechtfertigungszwang verbunden. Claudia Gehrke stärkte mir mutig den Rücken. Gemeinsam betrieben wir „Aufklärung“, auch auf Podien in Wien. Eine bis zum heutigen Tag andauernde erfolgreiche Zusammenarbeit begann, in deren Verlauf Claudia Gehrke all meine literarischen Texte veröffentlichte. Und das war auch der Beginn unserer Freundschaft, die ich nicht missen möchte.

Erschienen in: Mini-Konkursbuch, Claudia Gehrke und der Verlag, Hg. Stephanie Sellier, 2018