LA MOTO – Eine Liebesgeschichte

Ich schließe sachte die Tür zu seiner Wohnung und laufe die Treppen hinunter auf den dunklen Parkplatz, auf dem die Maschine steht. Die Nacht ist so kühl, der Sattel glänzt feucht im Licht der Bogenlampe. Der Mann, den ich soeben verlassen habe, hat sich in meinen Armen erschöpft und zufrieden dem Schlaf übergeben. Die Wärme seines Körpers spüre ich noch auf meiner Haut, als ich die Jacke zuknöpfe, den Schal fester um den Hals ziehe, den Helm auf meinen erhitzten Kopf drücke. Es ist niemand zu sehen um diese Zeit und kein Laut dringt zu mir, außer dem dumpfen Brausen der fernen Stadt. Die liegt tief unter mir, wird über weit ausholende Kurven zu erreichen sein. Ich streife die Handschuhe über, stütze mich leicht mit der Linken am Lenker ab und schwinge mich gemächlich in den Sattel. Ein Schub mit dem Becken und sie ist vom Mittelständer herunten, das Vorderrad kommt mit leichtem Federn am Boden auf, jetzt liegt sie abwartend, bullig zwischen meinen Beinen. Ich stecke den Schlüssel hinein, ziehe den Choke, starte. Der erste, dann der zweite Kolben kommt. Sie schlagen beide dunkel an wie Herzschläge, tausendfach verstärkt, pochen durch die stille Dunkelheit, als wären sie in meinem eigenen Körper. Der ist ihnen Resonanz, nimmt sie auf, vibriert wie sie – noch weich, durchlässig vom Lieben.

Ich drehe mit der Rechten am Gas, der Motor geht sofort auf Touren. Ich schlage den ersten Gang ein, den zweiten und fahre langsam, gezähmt um niemanden zu wecken, zu der Straße, die den Berg hinunterführt. Der Lenker liegt leicht in meinen Händen, gibt jeder Bewegung spielend nach. Die Ampel ist auf rot. Von Zeit zu Zeit ein Wagen, der über die Kreuzung rast. Ich warte. Der Motor wärmt sich auf. Ich spüre beim Stehen die Kolbenbewegungen zwischen meinen Schenkeln. Der Rechte schlägt von Zeit zu Zeit aus, gibt mir einen Schub. Dann ist Grün. Ich drehe den Gasgriff nach unten und schnelle nach vor. Berauscht ziehe ich den zweiten Gang hoch hinauf und nun den dritten. Ich werde in die breite, glatte Fläche der Straße hineingeschleudert, von einer Kraft, die – wahnwitzig – aus meinem Körper kommen könnte. Die Geschwindigkeit, das bin ich, die scheint von mir auszugehen. Es ist kein Unterschied mehr zwischen der Maschine, die im rasenden Tempo dahinhämmert, in dunklen, satten Lauten und mir, die ich nach Bedarf den Gasgriff runterdrehe – zu mehr und mehr, in unmerklichen Bewegungen des Lenkers das Fahrzeug neige, wenn Kurven zu nehmen sind. Die Kraft presst mich in die Erde hinein und gleichzeitig scheine ich abzuheben – so schwerelos bin ich geworden. Eine Kurve beginnt. Ich verlangsame kurz, neige mich tief hinein, gebe an ihrem Scheitel Gas, ziehe mich in einer einzigen, langen Bewegung hinaus, bringe das Fahrzeug wieder in die Senkrechte, tauche auf, um in die nächste hineinzugehen. In diesen Kurven, die weit geschlungen den Hang hinunterführen, fühle ich mich mehr denn je wie auf einer Bahn, der die Maschine unbeirrbar folgt, auf der sie dahinrast, ohne einen Millimeter von dem vorgegebenen Kurs abzuweichen. Wie ein Komet bin ich und unter mir die Erde, die ruhig daliegt mit ihren Lichtern. Es geht tiefer und tiefer hinunter. Ich schwebe, tanze auf einem Seil. Dieses senkt sich. Ich schieße dem Abgrund entgegen, in die Nacht hinein, in den Bauch der Stadt, die grellen Lampen der Straßenbeleuchtung flirren an mir vorüber, die kühle Luft, die Feuchtigkeit geht mir angenehm durch und durch. An einer Ampel lasse ich teilnahmslos ein paar Autos vorüberziehen, dann geht es weiter.

Es scheint alles mir zu gehören, was in diesem Moment von der Welt zu haben ist. Die Einsamkeit. Das Sich-loslösen-können von einem warmen, eben noch begehrten Körper. Den Schnitt erleben, die Schwelle überspringen zur kühlen Nachtluft, zum Draußen, zu der Reise, die mich wieder auf mich selbst zurückwirft, von der alles zu genießen ist, der Fahrtwind, die heiße Luft des Motors auf meinen Knien, die Kraft, die auf die geringste Regung meiner Hand anspringt und wieder abnimmt, so wie ich es will. Die  Weite. Die Welt scheint grenzenlos und gleichzeitig offen und überall erreichbar für mich. Die Bewegung, in der ich bin, könnte auch niemals enden. In mir das Dröhnen, der Druck, die Geschwindigkeit. Und draußen Stille. Häuserreihen, Straßen, Plätze, unbeweglich, still und sofort vorüber. Das Stück Autobahn, das mich von der Stadt noch trennt, ist dunkel und schnurgerade. Samtschwarz der neue, kaum noch befahrene Asphalt. Gleißend weiß und schimmernd die Begrenzungsstreifen. Ich habe den Blick weit in die unbestimmte Ferne gerichtet, rase in den Schlund zwischen den weißen Streifen hinein, der sich zu einem unsichtbaren Horizont hin verengt und dort zu verschwinden scheint. Manchmal tauchen Straßenzeichen auf, phosphoreszierend. Wie rote Blitze schießen sie rechts an mir vorbei, dann wieder Kilometer lang nichts. Rücklichter eines Lasters. Die kommen sehr schnell näher. Es gilt, den Moment genauso abzuschätzen, in dem ich auf die andere Fahrbahn wechsle. Ein kurzes Schlingern im Windschatten dieser trägen, schaukelnden Masse. Sein Fahrtwind treibt mich gefährlich nahe zur Leitplanke, dann bin ich auf gleicher Höhe und segle an seinem Bug vorbei in die Bahn zurück.

Es ist ein Niemandsland hier und trotzdem riecht die Nacht jetzt nach frisch gemähtem Gras. Es gibt hier nichts außer den grellen, weißen Streifen auf dem Asphalt, die im Unendlichen sich treffen und trotzdem ist etwas wie Geborgenheit in mir. Die Fahrt könnte immer so weiter gehen, es gibt kein Ziel, das unbedingt zu erreichen wäre, nichts, was diesen Zustand des In-mir-abgeschlossen-Seins beenden müsste. Auf dieser rasend schnellen Fahrt hat sich für mich der Stillstand eingestellt.

Ich träume. Ich läute an ihrer Tür. An einem beliebigen Morgen. Einen zweiten Helm in der Hand. Sie steht vor mir und hat ihr liebes Lächeln auf den Lippen. Ich nehme sie an der Hand und wir laufen die Treppen hinunter zum Parkplatz. Strahlende Sonne. Warmer Wind. Ich küsse immer wieder zart ihren Nacken. Setze ihr den Helm auf und schließe ihn unter ihrem Kinn. Wir lachen. Sie nimmt hinter mir im Sattel Platz. Ich starte an. Jetzt, wo wir zu zweit sind, legt sich die Maschine tiefer, besser in die Kurven. Die Geliebte meines Traumes hat ihre Arme um mich geschlungen, lehnt dicht an mir, ihre Hände streicheln meinen Bauch und über die Taille, bleiben auf meinen Schenkeln liegen. Sie fühlt sich federleicht an, ich spüre von ihr nur den weichen Kontakt ihres Körpers. Als wir bei einer Kreuzung stehenbleiben, lächeln wir einander im Rückspiegel zu und mit der Rechten nehme ich sie an der Kniekehle und drücke sie fest an mich.

Die Autobahn ist zu Ende, die Stadt auf einmal da, umgibt mich. Das grelle Orange ihrer Straßenlichter reißt mich aus meinen Träumen. Langsamer werden. Ich brauche einige Sekunden, um mich an das neue Tempo zu gewöhnen, dass es wieder Ampeln gibt und bekannte Straßen bis zu meinem Haus. Das Ziffernblatt der großen Uhr zeigt zehn vor drei. Ich fahre langsam durch die leeren Gassen auf das Haus zu. In der Einfahrt hallt der Motor einen Moment lang in dumpfem Grollen wider, dann schalte ich ihn ab, öffne leise die Garagentür, schiebe die Maschine hinein. Der Raum ist sofort erfüllt von ihrer Hitze, von ihrem Geruch, den Dämpfen von Benzin und Öl, die sie von sich gibt. Ich drehe das Licht ab, bleibe im Dunklen noch kurz stehen, horche auf das leise Klirren des  langsam auskühlenden Metalls und gehe in die Wohnung hinauf. Ich entledige mich schnell meiner Kleider, rutsche unter die Decke und schlafe augenblicklich ein.

Karin Rick Kurzgeschichte erschienen in: Konkursbuch REISEN, Verlag Claudia Gehrke, Tübingen