Ester Valetta, Universität Bergamo über Chaos Girl

Karin Ricks Wahrnehmung des post-gender Diskurses

Der Insel gebe ich mich nun hin und lasse mich von meiner Leidenschaft für Anita ablenken, die mir in Wien den Schlaf raubte, den Magen für Essbares verschloss und mich nur ‚auf Sprung’ leben ließ, für die paar kostbar heißen Stunden an ihren Lippen, meine Hände im Gewühl ihrer seidigen Goldlocken vergraben, mein Körper in ihren Armen grazil und lasziv geworden, biegsam und anschmiegsam wie noch nie. Mein Körper schien ja sofort in die Unendlichkeit zu fallen, sobald sie mich anfasste. Die Kehrseite der Medaille Lug und Trug.“ Mit diesen Worten porträtiert Irene, Angestellte beim Wiener Amt für verlorene Güter und Protagonistin des neuen Lesben-Romans der Wiener Autorin Karin Rick, ihre problematische und komplizierte Liebesbeziehung zu der Butch-Femme-Figur Anita, dem „Chaos Girl“. Anita ist geschiedene Ehefrau und Mutter von Alex und Aaron, zweier Kinder im Alter von sechs beziehungsweise vier Jahren. Ganz generell fallen die Merkmale des Romans unter den Begriff der Liebe. Es geht um die Liebe zur Partnerin, zu den eigenen Kindern, zu der Familie, zu der Wahrheit des Sagens und Handelns, es geht um die Ernsthaftigkeit der Gefühle dem anderen gegenüber. Im Detail geht es aber um eine besonders menschliche Auseinandersetzung des Ich mit dem Anderssein d.h. mit dem Lesbischsein und dessen sozial normiertem Verstehen.

Die zwei Protagonistinnen Irene und Anita gehören beruflich zum selben Ambiente, dem Büro, wo sie täglich unter der Routine ihres Jobs ersticken, aber wo ihnen ein Ort für ihr zufälliges Treffen entsteht, der wie frische Luft für beide ist. Für die ruhige Irene ist die energische Anita Grund für die definitive Trennung von ihrer Partnerin. Nicht so hingegen für Anita, die Irene sicher liebt, aber die noch nicht bereit ist, ihre Partnerin Melanie zu verlassen. Anitas Unentschlossenheit und ihre vielen Eskamotagen, um die Beziehung mit Melanie vor den Augen der eifersüchtigen Irene verborgen zu halten, bergen das Risiko, die neue Liebe in Frage zu stellen, aktivieren jedoch auch Irenes selbstbewusste Reaktion, Anitas Wahrheit der Gefühle zu entdecken. Irenes Versuche, Anita in die Enge zu treiben, um eine Entscheidung herbei zu führen, Anitas Schwierigkeit Melanie zu verlassen und vor Irene nicht mehr zu lügen stellen den LeserInnen die Natur der Protagonistinnen in sehr unterschiedlichem Licht dar. Die am Anfang des Romans scheue und unsichere Irene, die Anitas plötzliche Anwesenheit als unerwartete, fast gefährliche Lawine in ihrem geordneten Leben spürt, verwandelt sich in eine mutige und angstlose Frau, die bereit ist, alles zu unternehmen, um ihre große Liebe nicht zu verlieren. Anita, die „wonderwoman“ mit den eisernen Nerven, die am Anfang des Romans ihre vielen Aufgaben als Frau und Mutter gut zu balancieren weiß und ihrem Chef gegenüber ihre Rechte vehement vertritt, erscheint bald sehr zerbrechlich. Es ist, so als ob ihre übermenschlich toughe Haltung am Anfang nur eine Fassade gewesen war, um ihre wahre Natur zu tarnen. Anita ist ja nicht nur das „Chaosgirl“ des Romans, weil sie ein vielschichtiges Leben führt, sondern auch, weil sie ihre Gefühle anfangs noch nicht mit Klarheit erleben kann. Sie lebt in einer materiellen und in einer seelischen Konfusion. Trotzdem bleibt Anita für Irene „das Männliche im Weiblichen, die ideale Verbindung zwischen Mann und Frau in einer Person, […] das wollüstige Ideal schlechthin“, weil an ihr all das normal ist, was sonst an einer Frau, an einer städtischen Erdenbürgerin in unserer Zeit, nicht normal ist.“

Anita ist die physische und seelische Verkörperung des Mann im Weibe-Begriffs, und das führt zu einem weiteren inhaltlichen Motiv: Rick konkretisiert die geglückte Überwindung der Dichotomie Mann/Frau: Anita steht für die Proklamation des dritten Geschlechts, wie die Post-Gender-Studien es nennen. Auf Grund ihres hetero- und homosexuellen Lebens ist Anita das perfekte Bild dieses dritten Geschlechts, denn sie vereinigt in sich gleichzeitig das Weibliche – sie ist eine Mutter – als auch das Männliche – ihr Körper ist burschikos – ohne aber eine Cyborg Figur im Sinne von Donna Haraway zu sein. Diese Koexistenz des Männlichen und des Weiblichen in Anitas Natur stellt Rick als das NORMALSTE LEBENSGESETZ dar. Dies ist die Bestätigung, dass Judith Butlers Begriff Gender als getrennter Dualismus von Mann und Frau obsolet geworden ist.

Die moderne Gesellschaft plädiert heute für die Weiterentwicklung des Begriffs GENDER in dem Sinne, dass es keine Barriere mehr zwischen den Sexes bzw. Genders gibt. Man spricht über eine fluidity und intersectionality des Weiblichen mit dem Männlichen. Das ist keine besondere Entdeckung, wenn man an die hermaphroditische ursprüngliche Wesensnatur des Menschen denkt. Die Ungewöhnlichkeit eines scheinbar chaotischen Lebens wie Anitas, wird übrigens von Anitas Kindern sofort verstanden. Während die Welt der Erwachsenen – denkt man an Anitas Chef oder an die neue Partnerin ihres Ex-Mannes – eine derartig komplexe und flüssige Natur als Anderssein betrachtet und abstempelt, sodass keine Gleichstellung möglich ist, versteht die Welt der Kinder sie als NORMAL – im Sinne von naturhaft.

In der Welt der Kinder trägt Anita keinen für das kodierte gesellschaftliche Ordnungssystem gefährlichen, destabilisierenden Unterschied in sich, und das, weil die Kinder bereits in die Welt der Zukunft versetzt sind. Anitas Kinder erfahren die lesbische Beziehung ihrer Mutter mit Irene ohne Traumata sondern mit Freude. Alex und Aaron sind froh, dass sowohl ihre Mutter eine neue Partnerin hat, als auch sie eine neue Komplizin für ihre Spiele haben. Während sich die Auseinandersetzung der Kinder mit Irene glücklich gestaltet, ist die mit Cruelle, der neuen Gefährtin ihres Vaters, sehr problematisch. Cruelle ist total unfähig die Kinder unter Kontrolle zu halten – mit der Folge, dass die Kinder entweder ab und zu krank sind, oder, dass Cruelle wegen einer Nervenkrise ins Krankenhaus muss. Das ist die konkrete Bestätigung, dass die von der Gesellschaft gewollte Regel, die Heterosexualität, nicht immer die beste und glücklichste Lösung ist. Ricks neuer Roman ist eine gut gelungene Reflexionsmöglichkeit über das gesellschaftspolitisch aktuelle Motiv von alternativen Familienmodellen und deren möglicher Lebbarkeit in der Zukunft unseres Gesellschaftssystems.